Klinik, Diagnostik und Therapie der FSME
mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Rüdiger Braun
An der Einstichstelle der Zecke infiziert das FSME-Virus verschiedene Zellen, so unter anderem Endothelzellen der Gefäße und auch Immunzellen wie die Langerhans-Zellen des Gewebes und Makrophagen (große Freßzellen). Durch die Lymphbahnen erfolgt ein Transport in die zugeordneten (regionären) Lymphknoten, wo eine erneute Virusvermehrung stattfindet. Von hieraus gelangt das Virus durch das Blut in weitere Organe, insbesondere in die Leber, die Milz und das Knochenmark, wo eine zusätzliche Virusvermehrung, insbesondere in Zellen des zum Immunsystem gehörenden, sog. retikulo-histiozytären Systems erfolgt. In diesem Stadium zirkulieren die Viren in großen Mengen im Blut (Virämie). Das Zentralnervensystem (ZNS) wird schließlich nach der Überwindung der Blut-Hirnschranke meist auf dem Wege der Virämie und Vermehrung des Virus im Gefäßendothel, aber auch durch Verschleppung in Makrophagen erreicht. Im ZNS kommt es zu einer weiteren Virusvermehrung, die zum Absterben der Nervenzellen führt. Diese Nekrosen und die einsetzende Lymphozyten-vermittelte Immunreaktion führen zu einer Gehirnschwellung (Ödem), welche zusätzlich schädigend auf die Nervenzellen wirkt. Betroffen können alle Anteile des ZNS sein, Läsionen finden sich im Großhirn, im Hirnstamm, im Kleinhirn, in den Basalganglien und im Rückenmark. Besonders empfindlich für die Infektion sind offensichtlich die sog. motorischen Vorderhornzellen, so dass es häufig zu schlaffen, irreversiblen Lähmungen kommt.
Grundsätzlich kann sich das Virus auch entlang von Nervenbahnen ausbreiten, so dass eine Infektion durch die Nasenschleimhaut und Weiterleitung über die Nerven der Riechbahn ins Großhirn möglich ist. Dieser Infektionsweg spielt jedoch praktisch ausschließlich bei Laborinfektionen eine Rolle.
In Österreich, der Schweiz und Süddeutschland (Bayern, Baden-Württemberg) gehört die FSME in den Sommermonaten zu den häufigsten Ursachen nichtbakterieller ZNS-Infektionen. Ca. 2/3 aller FSME-Fälle werden in den Monaten Juni bis September beobachtet. Im Januar und Februar ist die FSME-Infektion eine Rarität. Trotz ihrer relativen Häufigkeit wird die FSME immer noch zu selten in differentialdiagnostische Überlegungen einbezogen. Dies liegt möglicherweise daran, dass ihre Übertragung nicht nur durch adulte Zecken, sondern auch durch Zeckennymphen und schon fast mikroskopisch kleine Zeckenlarven zu wenig bedacht wird. Insbesondere der Stich durch Zeckenlarven bleibt klinisch praktisch immer unbemerkt.
Nach einer von der Lokalisation der Einstichstelle und der abgegebenen Virusmenge abhängigen Inkubationszeit von 1 bis 3 Wochen (im Mittel 7 bis 14 Tage) kommt es bei ca. 1/3 der Patienten zum typischen biphasischen Krankheitsverlauf. Ca. 2/3 der Patienten haben entweder nur geringgradige Krankheitssymptome (subklinischer Verlauf, ca. 50% der Patienten) oder zeigen einen abortiven Verlauf der Infektion mit Gesundung nach dem ersten Fiebergipfel. Bei dem vollausgebildeten Krankheitsbild kommt es jedoch zum biphasischen Krankheitsverlauf mit Ansteigen des Fiebers auf 38°C - 39°C für 3 bis 7 Tage, woran sich ein symptomfreies Intervall von ca. 1 Woche, mit einer Variation von 0 - 1 Tag bis 3 Wochen anschließt. Es scheint eine gewisse Korrelation zu geben, dass mit zunehmender Dauer des symptomfreien Intervalls die Häufigkeit schwerer Folgezustände eher abnimmt. Möglicherweise sind hierfür in der Zwischenzeit einsetzende Immunreaktionen verantwortlich. Der erste Fiebergipfel entspricht dem Stadium der Virämie, während der darauffolgende zweite Fiebergipfel dem Stadium der ZNS-Infektion gleichzusetzen ist. Bei ca. 1/3 der Patienten mit ZNS-Symptomen bleibt die erste Erkrankungsphase aus bzw. geht direkt in die zweite Phase über. Die zweite Phase ist durch einen erneuten schnellen Fieberanstieg auf hohe Werte bis über 40°C mit schweren Krankheitssymptomen gekennzeichnet.
Im Vordergrund steht hierbei die virale Meningitis mit Meningismus (Nackensteifigkeit), Kopfschmerzen und deutlicher Lichtscheu. In ca. 30 % dieser Fälle kommt es zur Ausbildung einer Meningoencephalitis mit Erregungs-, Schwindel- und Angstzuständen, Extremitätenschmerzen und Sinnestäuschungen. Lähmungen können später hinzutreten. Ca. 10% der Patienten zeigen eine Meningoencephalomyelitis bzw. eine Meningoencephaloradiculitis .
Im Vordergrund steht die Hirnhautentzündung (Meningitis), in 30% der Fälle kommt es zusätzlich zu einer Entzündung des Gehirns (Meningo-Enzephalitis). Bei ca 10% der Patienten finden sich schließlich Zeichen einer Mitbeteiligung des verlängerten Rückenmarks (Sitz des Atemzentrums!) (Meningoenzephalo-Myelitis) bzw. der Rückenmarks-Nervenwurzeln (Meningoenzephalo-Radikulitis)
Die paralytischen Verläufe entwickeln sich meist nach Rückgang der Spitzentemperaturen. Hierbei sind insbesondere ausgeprägte Paraplegien (doppelseitige Lähmungen) und Tetraplegien (Lähmung aller 4 Extremitäten) , sowie Paresen der Schultergürtel- und Kopfmuskulatur prognostisch ungünstig. Auch Infektionen bei Patienten im Alter von über 40 Jahren haben in der Tendenz einen schwereren Verlauf, während Kleinkinder meist lediglich eine meningeale Verlaufsform zeigen. Allerdings wurden in letzter Zeit auch von Kindern (meist ab 6 Jahre) schwere Infektionsverläufe mit schweren und mittelschweren Folgezuständen und Lähmungen beschrieben. Insgesamt scheint bei männlichen Patienten die Tendenz zu schweren Verläufen stärker ausgeprägt zu sein.
Wichtig ist, dass sich die Symptome bei ZNS-Infektionen nur langsam zurückbilden und nach überstandener Infektion noch über Monate anhaltende Beschwerden bestehen bleiben. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch wurde bisher nicht beobachtet, so das besondere Isolierungsmaßnahmen nicht erforderlich sind.
Innerhalb der ersten Erkrankungsphase kommt es zu einer teilweise deutlichen Leukopenie. Diese wird in der zweiten Erkrankungsphase durch eine Leukozytose mit bis zu 15.000 Zellen/µl abgelöst. Es findet sich eine deutlich erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit. Als Ausdruck einer seltenen Begleithepatitis oder Myokarditis können die entsprechenden Leber- und Herzenzyme ebenfalls erhöht sein.
Im Liquor findet sich eine für eine Virusinfektion uncharakteristisch hohe lymphozytäre Pleozytose (bis 5.000/3 Zellen), sowie ein erhöhtes Liquor-Eiweiß (bis 200 mg/%).
Wesentlich für die Diagnostik ist zunächst die Anamnese. Wenn kein Aufenthalt in einem Endemiegebiet erfolgte, macht dies das Vorliegen einer FSME unwahrscheinlich. Es sind dann weitere differentialdiagnostische Überlegungen anzustellen. Üblich ist der Nachweis virusspezifischer IgG und IgM-Antikörper im ELISA. Bereits in der ersten Erkrankungsphase sind virusspezifische IgM-Antikörper meist nachweisbar. Bei negativer Serologie empfiehlt sich eine Wiederholung der Untersuchung nach ca. 1 Woche. In der zweiten Erkrankungsphase werden regelmäßig sowohl IgG- als auch IgM-Antikörper gefunden. Auch im Liquor können Antikörper gefunden werden, allerdings bleibt der Nachweis von IgM-Antikörpern im Liquor in ca. 50% der Fälle negativ.
Mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) kann das Virus im ersten Stadium der Erkrankung aus dem Blut, in der zweiten Erkrankungsphase aus dem Liquor nachgewiesen werden. Allerdings schließt ein negatives PCR-Ergebnis eine Infektion nie aus, da zum Zeitpunkt der Probenentnahme die virämische Phase schon abgelaufen sein kann bzw. auch der Liquor-Befund eine Infektion in abgegrenzten Gebieten des ZNS nicht immer wiederspiegelt.
Die Virusisolierung in Zellkultur oder in Säuglingsmäusen ist heute weitgehend verlassen und bleibt speziellen Fragestellungen vorbehalten. Hier wurden auch häufig falsch negative Ergebnisse beobachtet, da zum Zeitpunkt der Probenentnahme bereits neutralisierende Antikörper vorlagen. Die Komplementbindungsreaktion ist auf Grund ihrer zu geringen Sensitivität obsolet und sollte nicht mehr durchgeführt werden. Gleiches gilt für den IHAT, der aufgrund vielfältiger Probleme nur noch in wenigen Referenzlabors durchgeführt wird.
Bei der Interpretation serologischer Befunde sind verschiedene Gegebenheiten zu berücksichtigen: So kann die vorherige Gabe eines FSME-Hyperimmunglobulins zu falsch interpretierten positiven IgG-Titern im Serum führen und einen eigentlichen Antikörperanstieg in den Klassen IgG und IgM verzögern. Bei kürzlicher Impfung oder Exposition gegenüber anderen Flaviviren (z. B. Gelbfieber, Encephalitis japonica, Dengue-Fieber) kann es zu Kreuzreaktionen mit dem FSME-Virus kommen, die nur im Neutralisationstest abgeklärt werden können. Der Immunoblot kann darüber hinaus zur diagnostischen Absicherung und zum Ausschluß unspezifischer Reaktionen eingesetzt werden. Ein Ausschluß kreuzreagierender Antikörper ist mit dem Immunoblot jedoch nicht möglich. Auch nach der FSME-Impfung selbst können persistierende IgM-Antikörper zu Fehlinterpretationen führen. Bei Infektionsdurchbrüchen trotz Impfung, aber auch unter anderen Bedingungen kann die Bildung von IgM-Antikörpern auch bei einer frischen Infektion ausbleiben. Umgekehrt können z. B. bei Epstein-Barr-Virus-Infektionen nach FSME-Impfung IgM-Antikörper auftreten, die keine diagnostische Wertigkeit besitzen. Serologische Untersuchungen müssen daher von entsprechend erfahrenen Labors durchgeführt und interpretiert werden.
Eine kausale, gegen die FSME-Viren gerichtete Therapie existiert nicht. Bei einzelnen, sehr schweren Verläufen kann eine Interferon-Gabe erwogen werden, die aber meist zu spät kommt. Insgesamt beschränkt sich die Therapie auf symptomatische Maßnahmen. Wesentlich ist absolute Bettruhe und Abdunkelung des Patientenzimmers. Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Einhaltung strenger Bettruhe hilft, Komplikationen zu vermeiden. Die eigentliche symptomatische Therapie besteht in der Gabe von Vitaminen, Analgetika und ggf. Antipyretika. Zu späteren Zeitpunkten kann eine krankengymnastische Behandlung hilfreich sein. Cortison, wie früher vorgeschlagen, sollte nicht gegeben werden, da sich hierdurch der Krankheitsverlauf verlängert.